Auf der Suche nach einem flüchtigen Dazwischen
„Oh lethargy! When at five o’clock the sun tires and ceases to be functional,
then come the lights and their local switch, connecting everything to an impossibly
huge grid of global electricity. The grid we drag ourselves over and
remember. Lights on, lights off, there is no way to escape space.
This is the time for walking, we believe.”i
Raphaela Riepl arbeitet mit Atmosphären, Bewegungen, Gesten, Licht, Luft, Raum und Zeit. Ihren Arbeiten sind all diese Themen inhärent, subtil vereint in reduzierten Materialästhetiken. In einem präzise konstruierten Dazwischen öffnen sie sich gegenüber Gefühlen, Erfahrungen und Sinnlichkeiten, deren Intensitäten von der Betrachtungsdauer und dem Verhältnis zu Tages- und Nachtzeiten abhängig sind. Die Interventionen sind in diesem Sinn von ephemerer Natur, bietet sich doch nie eine zweite identische Interaktion mit ihnen an. Mit großem Gespür gelingt es Raphaela Riepl kontinuierlich, Orte zu schaffen, die uns begegnen wie wir ihnen. Ohne unsere Erwartungshaltung exakt zu spiegeln, strahlen ihre Arbeiten doch tiefer, sobald wir uns ihnen hingeben.
Ein Medium allein zu besprechen, das eine vom anderen abzugrenzen und zu trennen fällt hier schwer. In eng aufeinander abgestimmten Konstellationen unter immer neuen Rhythmen macht die Künstlerin Möglichkeiten für Auseinandersetzungen auf, die ohne narrative Strukturen oder komplexe Theoretisierung auskommen. Anstelle von Zeichnung, Neonarbeit, Film oder Fotografie finden Begriffe wie Space, Level und Movement vermehrt Eingang in Sprachgebrauch und Denken von Raphaela Riepl, um ihre Anliegen zu beschreiben. Zwei-, drei- und mehrdimensional, zwischen Stasis und Kinesis pendelnd, sind diese fluiden Zustände zu verstehen. Und auch in den Titeln, die häufig Varianten dessen verkörpern (u. a. Between, Begegnung, Beyond), wird uns bewusst, wie wesentlich es für die Künstlerin ist, atmosphärisches Erleben als Intention zu artikulieren.
In diesem Sinn ist es nicht notwendig, eine ontologische Struktur innerhalb der Praxis von Raphaela Riepl zu forcieren. Vielmehr wollen wir uns den unterschiedlichen Formen und Medienzuschreibungen ihrer Werke wie Emblemen oder Sternbildern annähern, indem wir einzelne wesentliche Punkte bestimmen und ihre Charakteristiken lesen lernen. Denn ihre jeweilige Beschaffenheit als eigenständige Arbeiten in einem bestimmten Medium zeichnet sie trotz, oder gerade wegen, ihrer untrennbaren Relationen zueinander aus.
Eines jedoch vorweg
Ausgangspunkt und Basis für alle Arbeiten ist die Zeichnung. In einer scheinbar impulsiven Geste entsteht eine Form, wird eine Farbe festgehalten oder eine Intention manifestiert. Es sind nicht-geometrische, freihändig zu Papier gebrachte Linien, Kreise, Ellipsen, Flecken, Kritzeleien und Markierungen. Oft als Gouachen ausgeführt, ähneln manche Tieren und Pflanzen, Architekturen, Gegenständen oder mikrobiologischen Formen und Zuständen, andere wiederum sind abstrakter und deuten Konzepte, Ideen oder Emotionen an. Die Farbpalette ist reduziert, Pastelltöne treffen auf Abstufungen von Grau, wobei eine Heiterkeit und beinahe kindliche Leichtigkeit die Zeichnungen charakterisiert. Ihnen allen liegt ein performativer Akt zugrunde, einer, der nicht aggressiv nach vorne prescht oder sich laut gibt, sondern ein durchaus selbstbestimmter, wenngleich zarter Prozess des Findenwollens einer Essenz. Diese Essenz ist es auch, die auf Basis der Zeichnung in Licht und Luft gewandelt wird, sich in unterschiedlichen Formen und Medien darstellt – als Neonarbeit, Fotografie, Film, Textil oder installative Kombination unterschiedlicher Teile.
Light and Day and Sky
Das beinahe unhörbare Schwingen und Surren der Leuchtröhren ist das akustische Zeichen ihrer Lebendigkeit. Das Verformen des Eisens in den Trafos durch die ständig wechselnden Magnetfelder und das Oszillieren der Strahlung im Raum geben den Puls vor. Alles wird erfasst, eingefärbt und aufgeladen, Wände, Boden, Fenster, Raumelemente, benachbarte Arbeiten. Auf Wirkungen zielt Raphaela Riepl bei ihren Neonarbeiten ab, auf physische wie psychische. Wir wissen um die unterschiedlichen Effekte von Farbtemperaturen auf unsere Stimmung, daher ist es auch von Bedeutung, jede Nuance in einem Farbakzent ausdrücken zu können. Die Künstlerin führt das vor, ohne Belehrung oder Materialstudie zu betreiben.
In ihren Installationen finden sich feine, aufwendig hergestellte Leuchtröhren, die infolge der zugrunde liegenden Zeichnungen unregelmäßige Formen annehmen. Sie sind handgefertigt und ruhen als Wandobjekte oftmals auf Hintergründen aus pulverbeschichtetem Metall, lackiertem oder verspiegeltem Holz (SECRET MAGIC, Begegnung in Rosa/Blau/Lila). Stehen sie frei im Raum, werden sie von rechteckigen Rahmen gestützt (Does the angle between two walls have a happy ending?). Manchmal schweben die delikaten Leuchten aber auch frei im Raum: Von der Decke gehängt durch unsichtbare Schnüre wirken sie schwerelos, dem Vakuum des Alls sehr nahe (BEYOND A SYSTEM – RISING, BEYOND A SYSTEM – FALLING). Zur Erdung werden ihnen daher auch Grids, hellgraue bis anthrazitfarbene Gitter, zur Seite gestellt, die als urbanes Element unwillkürlich an umzäunte Industriegebiete oder Sportanlagen erinnern. Diese verorten uns erneut innerhalb bestehender Gravitationen (it could be as it is, In between there is light, REMAIN).
Thematisch bilden die abstrakten Arbeiten vermehrt eine Brücke zu meteorologischen, physikalischen und astronomischen Gegebenheiten, ohne abzubilden oder auf eindeutige Zuschreibungen zu bestehen. Atmosphäre, atmosphärisch, oh Dunst der Erdkugel. Eine schwer greifbare, immaterielle Fokussiertheit charakterisiert das Leuchten, mal plastischer, mal aufgelöster, je nach Tageszeit und Ort. Gebrochene Symmetrien und falsche Serialität (SODA FLOAT, Nafplio – Athena 1, Lichtersee, ICE CREAM) sind die gewählten Stilmittel, um Ordnungssystematiken zu entmachten und sich voll und ganz dem Dazwischen, der Aufhebung fester Grenzen, zu verschreiben.
Dehnbarkeit
„Also, der Begriff der Zeichnung wird auf jeden Fall sehr gedehnt“, formuliert es Raphaela Riepl pointiert im Vorgespräch zu diesem Text. Denn neben der Übersetzung der Zeichnung in Licht experimentiert sie zusätzlich mit dem Bildträger an sich. Leinwand, Seide, Latex, bedruckt, bemalt oder roh belassen werden zu weiteren Ebenen im Raum oder nehmen ihn selbstbewusst ein. Als Hintergrund einer Neonarbeit bekommt der Latexbehang beinahe etwas Sakrales, das an das Schweißtuch der Veronika denken lässt (soft and warm, rosé), während die Leinwand an der Wand durch ihre Größe und vertikalrechteckige Form die Elemente der Installation zusammenzuhalten weiß (BEYOND A SYSTEM). Am ausdruckstärksten gebiert sich aber die Seide, deren Zartheit in noblem Weiß durch unregelmäßige schwarze Punkte akzentuiert wird. In Wellenbewegungen begleitet sie ähnlich geschwungene Leuchten, schwebt und fließt zugleich und schreitet so in einer Geste der Zeichnung durch den Raum (CORAL STILL LIFE MOMENTS). Die Stofflichkeit der Textilien fügt einen weiteren Sinn zum Erfahrungsspektrum hinzu, eine Haptik, derer wir nur sehnsüchtig wünschend habhaft werden, da wir die Arbeiten nicht berühren können.
Will you get your head out of the clouds and back in the water where it belongs?ii
In den ersten Jahren unmittelbar nach Studienabschluss an der Akademie der bildenden Künste Wien begann Raphaela Riepl mit einer kleinen Serie von Super-8-Filmen. Ballettchoreographien, Seeschlachten und Unterwassertreiben hielt sie darin in pulsierenden Bewegtbildern fest. Der bisher längste Kurzfilm, Ballet Royale Ocèanique (2017), zeigt als Quallen verkleidete Performer*innen, die in hautengen weißen Anzügen am Strand tanzen. Sie halten durchsichtige Schirme hoch, ein klarer Bezug zu den Schirmen von Quallen. Um dies nochmal zu verdeutlichen, haben sie sich Tentakel mithilfe eines Gürtels um ihre Körpermitten geschnallt, Tentakel aus Nylonstrümpfen gefüllt mit Styroporkugeln. Wir beobachten eine Melange von ineinanderfließenden Aufzeichnungen: Das Tanzen der anthropomorphen Quallen am Strand, biologische Abläufe wie Mitose, Bewegungsmuster einzelner Meerestiere und Feuerwerke. Alles erscheint etwas off, asynchron, asymmetrisch und bejaht so eine Realität, die abseits von ästhetischer Konditionierung funktioniert. Das kineastische Kaleidoskop und seine Entfremdungen werden von einem hypnotischen Soundtrack begleitet, der den visuellen Eindruck darüber hinaus beständig ändert, kippt, aus ihm schöpft und ihn verformt. Unbehagen und Faszination vereinen und verstärken sich in Raphaela Riepls filmischen Experimenten. Denn obwohl wir uns bereits mit ihr gemeinsam auf eine Reise in den Weltraum eingelassen haben, so sind die Tiefen der Unterwasserwelt ein Terrain, das noch weniger erforscht ist. Neugierig und ohne großes Wissen tauchen wir ein, uns in und zwischen beiden Polen zu situieren.
Was verschwindet, ist für immer weg.iii
Unschärfe, Verschwimmen, Flüchtigkeit. Konträr zu standardisierter Kunstdokumentation mit ihren möglichst getreuen, scharfen Aufnahmen der Arbeiten in ihrer Ausstellungsarchitektur fotografiert die Künstlerin sie zusätzlich selbst, um das Gefühl, die Erfahrung, die Stimmung einzufangen. Die so entstandenen analogen Fotografien können dem natürlich nur teilweise gerecht werden, entwickeln aber im Versuch der Bändigung ein Eigenleben. Dieser Teil der Praxis von Raphaela Riepl ist eine weitere Deklination ihrer Anliegen im behauptenden Medium der Momentaufnahme. Es mag paradox erscheinen, gerade das fotografische Statement hier anwenden zu wollen, doch im Festhalten der Strahlen, Schwingungen und Bewegungen entfaltet sich – erneut, und wie sollte es anders sein – eine eigene A-T-M-O-S-P-H-Ä-R-E.
Andrea Kopranovic, 2021
i Helen Marten, The Boiled in Between, London 2020, S. 89.
ii Dieser Satz stammt von Sebastian, der Krabbe, aus dem 1989 erschienen Disney Kinderfilm „Arielle, die Meerjungfrau“ (OV „The Little Mermaid“).
iii „‚Die Photographie ist meine Art des Zeichnens‘, sagt [Henri Cartier-Bresson]. ‚Die Kamera dient mir als mechanisches und optisches Instrument, um das Offenkundige zu erkennen. Das Photo entsteht hier und jetzt. Man darf weder manipulieren noch schummeln. Immer kämpfen wir gegen die Zeit: Was verschwindet, ist für immer weg. Man muss den Augenblick erfassen, die flüchtige Geste, das Lächeln, das nur einmal aufleuchtet. Deswegen bin ich permanent nervös – was für meine Freunde schrecklich ist –, aber nur eine ständig aufrechterhaltene Spannung erlaubt es, die Wirklichkeit einzufangen.‘“ „Das Leben einfangen. Gespräch mit Yvonne Baby (1961)“, in: Henri Cartier-Bresson: Man redet immer zu viel. Gespräche über das Leben, die Kunst und die Photographie 1951-1998, München 2020, S. 53.